Wie oft haben Sie das beim Lesen eines Buches erlebt, dass Sie das Gefühl hatten, dieses Buch ist eigentlich viel zu schade, um es „nur“ zu lesen. Man möchte innehalten, die Worte, den Satz, die Formulierung, den Gedanken einfach nur wirken lassen. Anschauen, wie ein wunderschönes Bild. Aber da ist ja noch diese spannende Handlung, die einen nicht verweilen lässt, weiter in ihren Bann zieht.
Genauso geht es einem bei David Mitchell’s „Der Wolkenatlas“.
Hat man noch nie ein Buch dieses britischen Autors gelesen, tut man sich anfangs vielleicht schwer mit diesem ungewohnten Aufbau von fünf Geschichten, die vom Autor in jeweils zwei Hälften aufgeteilt werden. Kaum hat man sich in die erste eingelesen, bricht sie unvermittelt ab, um erst als letzte im Buch wieder aufgenommen zu werden. Genauso passiert es mit der zweiten, der dritten usw., nur die mittlere Geschichte ist eine Einheit und gleichzeitig Wendepunkt. Eine literarische Matrjoschka vom Feinsten.
Jede Geschichte repräsentiert ein Zeitalter menschlicher Historie: ein amerikanischer Notar, der 1850 auf einem Handelssegelschiff durch die Südsee reist. Ein britischer Komponist, der sich 1932 in Belgien anstellen lässt und seinem alten und kranken musikalischen Dienstherrn zu neuen Höhepunkten verhilft (ganz nebenbei auch dessen Ehefrau). Eine junge amerikanische Journalistin, die in den 70er Jahren einen Skandal in der Atomindustrie aufdeckt. In der Gegenwart spielt die Episode eines Verlegers, der gegen seinen Willen in einem Seniorenstift eingesperrt wird und seine Flucht organisiert. Science Fiction pur spiegelt die Story um eine Klon-Arbeiterin wider, die menschliches Denken und Gefühle entwickelt. Zu guter Letzt die Erzählung über die Überreste menschlicher Zivilisation auf einer hawaiianischen Insel, wo nur noch das Gesetz des Stärkeren dominiert.
Sind diese sechs Spannungsbögen schon herausragend, so ist es der Schreibstil noch um so mehr. Da blitzen das Können des Autors und sein Studium der Komparatistik in jedem Abschnitt auf. Jeder Ära hat er seine Art des Schreibens angepasst - vom hochfeinen Britisch (da schreibt sich z. B. im 19. Jahrhundert „tun“ natürlich „thun“) über die schnoddrigen Formulierungen der Siebziger bis hin zu dem rohen ungeschliffenen Vokabular eines rustikal-rudimentären Inselvolkes, das zu wenig „Clever“ hat. Auch der Erzählstil variiert: mal Tagebuch, mal Briefe, mal Kriminalstory, mal Interview.
Der Roman nimmt einen mit auf Reisen der eigenen Phantasie und lässt einen ganz nebenbei in viele fremde Länder und Kulturen eintauchen: Neuseeland, Chatham-Inseln, die belgische Provinz unweit von Brügge, Maui/Hawaii, Raiatea (eine der Gesellschaftsinseln), San Francisco, Swannekke Island/Kalifornien, das schottische Hochland, Korea und nochmals Hawaii mit Honolulu.
Ganz besonders gelungen - diese bewusst eingestreuten, aber subtil versteckten gesellschaftskritischen Themen: die Ausrottung der Eingeborenen in Neuseeland und auf den Chatham-Inseln durch den Kolonialismus, die Verknüpfung von Politik, Industrie und männlichem Machtstreben, die Abschiebung alter Menschen in Pflege-Haftanstalten, die perfektionierte Werbe-Maschinerie, die sogar den Mond als Werbefläche benutzt und vieles, vieles mehr.
Und natürlich das durchgehende Thema - die Veränderung der menschlichen Gesellschaft von Jahrhundert zu Jahrhundert. Eine Gesellschaft, die blind vor lauter Fortschritts- und Technologie-Glauben dem eigenen Untergang entgegenstrebt und schliesslich dort landet, wo sie einmal angefangen hat. Bei wilden Kreaturen, die alle Gesetze des intellektuellen Humanismus verloren haben - back to the roots statt immer weiter.
David Mitchel ist ein Autor mit einer unglaublichen Wahrnehmung und mit einer Fähigkeit, Beobachtungen in Worte und Geschichten zu fassen, die einen selbst sprachlos macht. Ein virtuoser Künstler der Sprache, wobei ein großes Lob auch dem deutschen Übersetzer Volker Oldenburg gebührt.
David Mitchell hat ein Meisterwerk der Weltliteratur geschaffen, so auch das Urteil renommierter Kritiker.
Und das Schöne daran: man muss sich nicht durch dieses Buch hindurch quälen wie durch James Joyce’s Ulysses, um literarische Bildungslücken zu schliessen, sondern es liest sich leicht, wie ein Sommer-Roman am Strand.
Der Wolkenatlas von David Mitchell ist im Rowohlt Verlag erschienen.
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