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AutorenbildEllen Kuhn & Dr. Joachim Materna

Plädoyer gegen den Geheimtipp


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Waipio Valley Big Island Hawaii © travelART by ELLEN

Das Foto zeigt das Waipio Valley auf Big Island vor fast vier Jahren. Vermutlich wirkt dieser magische Ort auf fast alle Menschen verzaubernd, aber er profitierte eindeutig von unserer damaligen positiven, glücklichen, liebevollen, zugewandten Verfasstheit. Wir besuchten ihn in einem Moment, in dem alles einfach stimmig war.

"Reisende sind Auf-dem-Weg-Seiende“, so Roger Willemsen in seinem Buch "Die Enden der Welt“. „Ihre Bewegung verwandelt Orte in Schauplätze. Sie kommen an, sehen sich um, beobachten Menschen dabei, wie sie in fremden Räumen sich und andere bewegen, und schon dieser Blick verfremdet die Fremde. Alle hier Lebenden sind Geschichte und schleppen ihre Geschichte durch den Raum. Nur der Reisende ist reine Gegenwart, nur er sieht die Stadt in ihrem Jetzt“. Und dennoch oder genau deshalb ist das Jetzt, das Gegenwärtige immer subjektiv.

Wie wir einen Ort wahrnehmen, hängt von vielen Faktoren ab: In welcher emotionalen Verfassung sind wir gerade, sind wir traurig, fröhlich, gleichgültig? Tragen wir ein bestimmtes Thema mit uns herum, das eine selektive Wahrnehmung von bestimmten Faktoren begünstigt, ist beispielsweise das Problem mit der Arbeit oder der Familie mitgereist oder müssten wir eigentlich eine Lebensentscheidung treffen, die unsere Aufmerksamkeit vollständig ins Innen zieht und die Rezeptoren für das Außen blockiert? Wie steht es um unsere generelle Wahrnehmungsfähigkeit? Auf welche Ebenen achten wir bei der Betrachtung eines Ortes? Sehen wir nur eine Landschaft, eine Topografie, oder spüren wir auch atmosphärische Schwingungen, wie die unbändige Kraft des Meeres, welche die Menschen an einem Küstenort in ihrem Wesen prägt? Sehen wir nur Menschen anderer Ethnien oder können wir vielleicht sogar die Bedürfnisse, Sehnsüchte, Sorgen und Ängste in ihren Gesichtern lesen? Suchen wir nur nach positiven Erfahrungen oder wollen wir die ganze Bandbreite des Lebens an uns heranlassen? Empfinden wir auch eine Situation als wertvoll, die andere als hässlich oder gar grauenhaft empfinden? Welche Definition haben wir von Schönheit? All diese Faktoren und noch viele mehr beeinflussen unsere Wahrnehmung auf Reisen.

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Pebbles Beach, Barbados © travelART by ELLEN

Manchmal schafft es ein Ort, unsere Gefühlswelt auszubalancieren, er wandelt uns. Manchmal übertragen wir unsere Unzufriedenheit, Traurigkeit oder Frustration ebenso wie Freude, Glück und Liebe auf einen Ort und sehen dann nur die Aspekte, die mit dieser Stimmung schwingen. Manchen Orten tun wir im positiven wie negativen Sinne unrecht. Manchmal haben wir im Nachgang auch ein ganz schlechtes Gewissen, zu einem Ort unfair gewesen zu sein, sein Jetzt rückte zu einem ungünstigen Zeitpunkt in unseren selektiven Fokus.

Vorurteilsfrei und objektiv kann deshalb kein Ort sein, selbst wenn man ihn als Reisende/r in seinem Jetzt sieht. Er bleibt ein Produkt unserer ganz individuellen Wahrnehmung und Bewertung.

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Brooklyn New York im Sonnenuntergang auf einer Hinterhof-Dachterrasse © TravelART by ELLEN

Und genau hier grätscht die Frage nach dem Geheimtipp in die Überlegung. Was erhoffen wir uns von einem Geheimtipp? Wir wollen eigentlich eine universell gültige Empfehlung für einen Ort, der uns verzaubert, der uns den Atem raubt. Wir wollen keine Zeit verschwenden, diesen Ort selbst zu finden, sondern wir erhoffen uns vom Gegenüber eine Abkürzung. Selbstredend steckt hinter der Suche nach dem Geheimtipp auch ein gewisser Drang, unter keinen Umständen etwas zu verpassen, berühmt geworden unter dem Akronym FOMO, der Fear of missing out. Wir wollen selbstverständlich in der retrospektiven Reiseerzählung gegenüber Freunden und Bekannten auch nicht zugeben müssen, diesen einen besonderen Strand nicht gesehen zu haben, schließlich sind wir um die halbe Welt geflogen. Und dann geht es vielleicht auch gar nicht mehr um den Ort, sondern fast schon entkoppelt um ein Sammeln von Highlights, mit denen man sich brüstet.

Ganz unabhängig von unserer eigenen Motivation, diesen Geheimtipp unbedingt erfahren und erleben zu wollen, stellt sich auch die Frage, ob es für den Ort so gut ist, wenn auch noch wir ihn aufsuchen. Ist er nicht vielleicht besser ohne uns dran? Und war nicht so mancher Geheimtipp der Brückenkopf zur Zerstörung eines traumhaften Ortes durch den Schneeball-Effekt in Richtung Massentourismus? Aber diese Fragestellung geht nochmals in eine andere Richtung.

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Kleines Café auf Koh Samui © travelART by ELLEN

Zerpflückt man aber dieses Verlangen nach dem Geheimtipp, so kommt man leider zu ernüchternden Erkenntnissen.

Denn universell gültig kann keine Empfehlung sein. Reise ich als Paar und habe eine wunderbare Spa-Anwendung in einem kleinen Adults-only Boutique-Hotel am Strand gemacht, ist dieser Tipp sicher nicht für eine Familie mit Kind/ern geeignet. Genossen wir den Ausblick am Thorung Pass auf rund 5.400 Höhenmetern im Annapurna, so könnte das für eine/n Höhenempfindliche/n blanker Horror werden. Wir müssten demnach, wenn wir überhaupt eine Empfehlung aussprechen, das Persönlichkeitsprofil und den Charakter des „Geheimtipp-Empfängers“ kennen und die Fähigkeit besitzen, nicht nur unsere eigene Erfahrung unreflektiert an sie/ihn weiterzugeben, sondern zu einer Übertragungsleistung fähig sein. Wer macht das heute schon? Die meisten Konversationen, die man an Nebentischen rund um diesen Themenkomplex auffängt, sind subjektiv-euphorisch erlebte Orte und Situationen, die ungeprüft weitergereicht werden. Und oft erfüllt dieses Weitergeben von „Geheimtipps“ auch ganz andere Funktionen beim Tipp-Geber. Man möchte im positiven Sinne die eigenen Erlebnisse nochmals hochholen und durchleben, vielleicht aber sogar mit seiner Expertise Eindruck schinden. Durch Zufall kann es Übereinstimmungen geben, aber kommt man an diesem besonderen Ort an und ist beispielsweise krank, erschöpft oder einfach nur überfrachtet von Reizen, wird es schwer sein, ein ähnliches Resonanz-Erlebnis an diesem Ort haben zu können.

Auch die FOMO können wir nur durch eine radikale Infragestellung des Konzeptes lösen, denn wer sagt uns denn, dass wir auf den richtigen Geheimtipp-Geber getroffen sind und wir nicht nach Rückkehr von unserer Reise noch einen viel besseren Tipp erhalten hätten. Die kapitalistische Steigerungslogik hat sich bis in unsere Freizeit hinein gefräst. Mehr. Besser. Alles. Stattdessen ist es oft genau der eigene besondere Weg, der einen ganz ungezwungen in besondere Situationen bringt, sofern man schlichtweg aufmerksam und offen für sie ist. Sitzen wir entspannt an einem Strand, kann uns ein von seiner Arbeit zurückkehrender Fischer unverhofft zum Abendessen in seine Familie einladen. Oder wir geraten durch Zufall in eine balinesische Verbrennungszeremonie am Strand und werden herzlich willkommen geheißen. Vielleicht haben wir auch im lautesten Gewusel von Delhi einen innigen Moment der Völkerverständigung. Sind nicht solche Momente genau die, die einem das Herz öffnen? Viel mehr als an einem bestimmten Strand oder einem bestimmten Restaurant gewesen zu sein? Man kann diese Situationen nicht planen. Für sie gibt es niemals den ultimativen Tipp. Wenn man sie krampfhaft versucht herbeizuführen, entziehen sie sich. Deshalb sollten wir eher an unserer Einstellung ansetzen, schlichtweg offen sein und einfach unseren ganz eigenen Weg gehen. Es gibt so Vieles, das einfach so am Wegesrand auf uns wartet, unser ganz individueller, einzigartiger Geheimtipp zu werden, der unserer bleiben darf und sei es nur ein sich in einem Wassertropfen reflektierender Regenbogen.

Und wenn wir einmal ganz haarspalterisch werden, so verliert jeder geheime Tipp in genau dem Moment, da zwei Menschen von ihm wissen, seinen Geheimstatus.

Diese Einstellung braucht allerdings – obwohl sie eigentlich sehr naheliegend und einfach klingt – großen Mut. Einen ausgesöhnten Mut zur Lücke. Denn sich von den vielen gefragten und ungefragten Geheimtipps zu befreien, ist manchmal gar nicht so leicht. Vielleicht ist es auch eher weniger eine Befreiung als ein Entschließen zu einer neuen Lebenseinstellung.


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