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  • AutorenbildEllen Kuhn & Dr. Joachim Materna

Magisch in jeder Beziehung - Erlebnisse auf der Osterinsel

Aktualisiert: 6. März 2020


„Taxi!“

Nach beinahe sechs Stunden Flug über viel Wasser waren wir nun auf der Osterinsel. Ein kleiner, bei unserem Eintreffen sehr sonniger und warmer Fleck Erde umgeben von - ja - wieder viel Wasser. Abflug weit nach Mitternacht von Tahiti und extreme Turbulenzen hatten dafür gesorgt, dass wir uns vor dem Flughafengebäude sehr erschöpft nach einer Transportmöglichkeit umsahen.

„Taxi!“

Unsere Backpacker-Ehre war uns in diesem Augenblick ziemlich gleichgültig und wir wussten ohnehin nicht, wie weit unser Hotel entfernt lag. Auch auf einer kleinen Insel mit nur 24 mal 13 Kilometern konnten Fußwege mit 20 Kilogramm auf dem Rücken lang werden.

Als Ellen gerade wieder zu einem „Hallo…“ ansetzen wollte, quietschten neben uns Bremsen. Ein kleiner, aber drahtiger Südamerikaner sprang schwungvoll aus seinem hellblauen Daihatsu Charade, der sicher schon bessere Zeiten gesehen hatte. Als er unser Ziel hörte und die beiden Rucksäcke sah, runzelte er die Stirn.

„Und ihr wollt nicht lieber laufen?“ Aber gleich darauf verfrachtete er genau so energisch unser Gepäck auf einem der Rücksitze. Nach circa 100 Metern verließ er das sehr übersichtliche Flughafengelände, überquerte die davor verlaufende Landstraße und fuhr direkt auf der anderen Straßenseite in die Einfahrt zu unserem Hotel.

„Da sind wir“, grinste er lässig, während wir beide uns vor Lachen nicht mehr einbekamen. Damit war das erste Problem gelöst, Hotel gefunden. Aber für das zweite gab es auf die Schnelle keine Lösung. Wir hatten keine chilenischen Pesos - die auf der Osterinsel als Teil Chiles gültige Währung - und weder am Flughafen noch an der Rezeption war ein Umtauschen möglich. Also auch kein Geld für Riccardo, unseren Taxifahrer.

„Überhaupt kein Problem. Ich komme später noch mal vorbei oder man sieht sich irgendwo.“ Mit einem freundlichen Winken stieg er wieder in sein Taxi und konnte Ellens „Ähm…Halt…Stopp“ schon nicht mehr hören.

„Krass, oder?“ Achim schaute Ellen an. „Wir haben ja schon viel erlebt, aber wie kann man denn das jetzt einordnen?“ Wie konnte ein Taxifahrer von dannen fahren, ohne dass er sein Geld hatte? Ohne uns zu kennen?

Naja, es ging zunächst ja nur um einen kleinen Betrag. Also machten wir uns frisch und dann auf den Weg in die Innenstadt von Hanga Roa - wohl bemerkt der einzigen Stadt auf der Insel.

„Taxi!“

Wir hatten Glück. Kaum dass wir uns an die Straße vor dem Hotel gestellt hatten, kam ein leeres Taxi daher gefahren. Schallendes Gelächter - es war Riccardo.

„Könnten Sie uns bitte zu einer Bank bringen? Dann bekommen Sie auch gleich ihr Geld. Danach wollen wir einen Motorroller mieten“, weihte ihn Ellen in unsere weiteren Pläne ein, um gleich danach leicht ironisch nachzuhaken. „Gibt es eigentlich auch noch andere Taxis auf dieser Insel?“

„Aber natürlich, jede Menge, aber nicht so viele wie Pferde und Kühe.“ Riccardo war nicht nur ein temperamentvoller Taxifahrer, sondern auch ein erstklassiger Fremdenführer. Ohne dass wir ihn viel fragen mussten, sprudelten die Informationen aus ihm heraus. An der einzigen großen und damit Hauptstraße von Hanga Roa wechselten sich Restaurants, Einkaufsläden, Kirche und Schule, über die er immer kleine Geschichten zu erzählen wusste. „Hier links in dem braunen Haus wohnt meine Oma. Und da vorne rechts die Freundin von meinem Bruder. Aber sie ist es vielleicht nicht mehr lange.“ Wieder dieses schelmische, aber durch und durch herzliche Lächeln auf seinem ganze Gesicht. Er hörte auch nicht auf mit Ellen zu reden, als Achim schon lange im Eingangsbereich der Bank war und sich mit dem Geldautomaten abmühte, der deutlich besser Spanisch konnte als Achim. Ellen hatte alle Mühe Riccardo davon abzuhalten wieder wegzufahren, da wir nur einen Wimpernschlag von dem Begleichen unserer Schulden entfernt waren.

„Ich muss los, wir sehen uns später wieder. Irgendwo. Hier im Ort oder auf der Insel.“, waren seine letzten Worte und weg war er. Schon wieder.

Ohne Taxi, aber mit chilenischen Pesos in der Tasche machten wir uns nun im Fußmarsch auf zum Motorroller-Verleih. Wir hatten diesen nach etlichen Querstraßen fast erreicht, als es von hinten hupte. Riccardo. „Ich habe doch gesagt, man sieht sich hier immer wieder!“, lachte er, während er mit seinen neuen Gästen langsam neben uns her fuhr. Sein Gottvertrauen und seine Zuversicht, die für uns so befremdlich und ungewohnt waren, wurden belohnt. Sicher nicht zum ersten Mal, sonst hätte er nicht dieses Naturell. Es gab darüber hinaus noch einen ganz banalen Grund für seine vertrauensvolle Art. Nur alle ein bis zwei Tage landete hier ein Flugzeug, kein nennenswerter Schiffsverkehr, die nächste Insel lag über 2.000 Kilometer entfernt, also wenig Fluchtmöglichkeiten für seine Schuldner.

Es war genau 13 Uhr und 58 Minuten, als wir das kleine Büro des Motorroller-Verleihs betraten. Helle, freundliche Atmosphäre, ein einfacher Tisch ohne PC mit zwei Stühlen für potentielle Kunden. Auf dem Stuhl gegenüber saß ein kleiner, untersetzter, ungefähr zwanzigjähriger Chilene mit großen Kulleraugen. Mit einem Handzeichen gab er uns zu verstehen, dass wir uns setzen sollten, während er gerade voll konzentriert von einem etwa gleichaltrigen Mann eine Art Lunch-Paket in Empfang nahm und zunächst einmal dessen Inhalt gewissenhaft inspizierte. Herzhaft biss er in ein Tunfisch-Salat-Sandwich, das so groß war, dass er es nur mit beiden Händen halten konnte.

„Wach…ollen…ie…?“, nuschelte er noch voll und ganz mit dem Kauprozess beschäftigt. Sein Blick schien uns auf eine ganz putzige Art sagen zu wollen ‚Oh mein Gott, kann man hier nicht mal in Ruhe essen?‘. Da wir seine Laute in unserem Sinne als ‚Was wollen sie?‘ interpretiert hatten, war die einzig mögliche Antwort „Bitte einen Motorroller für 24 Stunden“. Er kramte wortlos in einer Schublade und beförderte zwei Formulare etwas lustlos auf den Schreibtisch.

„..ass..ort.. un ..ühr…schein“, presste er aus einem unverändert vollen Mund heraus, begleitet von etwas Mayonnaise in beiden Mundwinkeln. Sein gesamtes Erscheinungsbild war irgendwie niedlich, sodass wir ihm lächelnd das gaben, was wir glaubten, das er haben wollte - Passport und Führerschein. Vorbildlich deutsch, alles griffbereit. Unsere wohlwollenden Blicke ruhten auf ihm. Mittlerweile hatte er seinen Mund geleert, was die Kommunikation schlagartig einfacher machte. In diesem Moment fiel sein Blick auf die große Uhr an der weißen Zimmerwand rechts von ihm. Unsere Augen folgten den seinen. 14 Uhr und 2 Minuten. Kurze Stille.

„Geschlossen!“ Dieses eine Wort von ihm stand für Sekunden wie eine Projektion alleine im Raum. Wir waren nicht sicher, ob er das meinte, was wir hörten.

„Ähm… ok… wie geschlossen?“, stammelte Achim mit einem nicht mehr zu übertreffenden Fragezeichen im Gesicht. „Oder was geschlossen?“

„Ja… geschlossen“, wiederholte er bestimmt und wedelte dabei mit beiden Armen wild durch den Raum. „Hier geschlossen“, als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt. In uns verdichtete sich die Ahnung, dass er es wirklich ernst meinte. Er erhob sich energisch.

„Wie lange ist denn geschlossen?“, hakte Ellen mit einem starken Bedürfnis nach erschöpfenderen Informationen nach. Nachdem er uns leicht irritiert angeblickt hatte, kam die Antwort, die unser Verbalminimalist dieses Mal mit zwei Worten auf den Punkt brachte.

„Zehn Minuten.“ Er packte seine schwarze Umhängetasche und gab uns körpersprachlich zu verstehen, dass wir uns doch bitte aus dem Büro hinaus und zu einer kleinen Sitzgruppe direkt vor der Tür begeben sollten. Diese war von unserem aktuellen Platz nicht mehr als drei Meter entfernt.

Da saßen wir nun. Wir beide links der offenen Bürotür, er an dem anderen Tischchen rechts der Tür. Zusammen mit seinem Lunchpaket und einer Wasserflasche sichtlich mit sich und der Welt zufrieden. Wir waren von seinem coolen Verhalten mehr als beeindruckt.

„Irgendwie ja schon witzig, oder?“, durchbrach Achim die irgendwie groteske Situation. Aus uns beiden drohte ein unstillbarer Lachkrampf herauszubrechen. Dabei bestand der bestand der Witz nicht in der Person des süßen Büroangestellten, sondern vielmehr im Vergleich mit unserem Schreibtisch-Alltag, der sich gerade in unseren Köpfen abspielte. Was für ein himmelweiter Unterschied.

„Wann hast du zum letzen Mal einen Patienten vor die Tür geschickt, weil du für dich ein Brötchen oder ein Stück Kuchen essen wolltest?“, presste Ellen heraus. Sichtlich bemüht, nicht heraus zu prusten.

„Ehrlicherweise noch nie. Aber dieser Mann hat für mich Vorbildfunktion!“

Nach circa 15 Minuten standen wir alle drei wieder auf, kehrten an die ursprünglichen Plätze zurück und brachten in weiteren fünf Minuten die Ausleih-Prozedur zu Ende. Herrlich! Das machte diese Insel noch liebenswerter für uns.

Nachdem wir noch auf der Hauptstraße einige Pferde und Reiter mit unserem - etwas in die Jahre gekommenen - Motorroller überholt hatten, öffnete sich außerhalb von Hanga Roa eine Insellandschaft, die uns wie eine Mischung aus Irland und Südsee vorkam. Blauer Himmel, sanft geschwungene Hügel von unterschiedlich hohem tiefgrünem Gras bedeckt, welches nur stellenweise von schwarzem Vulkangestein unterbrochen wurde. Der Seewind zerzauste die Grashalme und zerrte zusammen mit dem Fahrtwind auch an uns auf unserem kleinen Zweirad. Dicht schmiegten wir uns aneinander, mal saß Achim hinten und umarmte Ellen, mal war es umgekehrt. Die längste Zeit sahen wir keinen Menschen, lediglich eine Vielzahl von Pferden, die völlig frei alleine oder in kleinen Herden durch die Weite der Landschaft galoppierten. Auch wir fühlten uns frei und wir genossen dieses Gefühl. Immer wieder war reaktionsschnelles Bremsen angesagt, wenn eines dieser stolzen und schönen Tiere plötzlich auf die Fahrbahn lief. Manchmal näherten wir uns der steilen und schroff abfallenden Lavaküste auf wenige Meter, so dass es kaum möglich war, der herauf peitschenden Gischt auszuweichen. Tiefblau kontrastierte sich die Farbe des Meeres in der strahlend hellen Sonne zu dem feucht schwarzen Vulkangestein und zu den saftigen Wiesen. Einzelne Bäume verloren sich auf den Kuppen der Hügel.

Irgendwann hatten wir das Gefühl, wir würden beobachtet. Als wir unsere Köpfe in Richtung auf den links ansteigenden Hang des Rano Raraku drehten, blickten wir in die Gesichter vieler Moais, die uns entgegenblickten, als würden sie uns erwarten. Alle Moai-Steinstatuen hatten einen überdimensional großen Kopf und tauchten knapp unterhalb der Körpermitte in die Erde ein. Diese weltberühmten, kolossalen Skulpturen der Osterinseln waren immer schon geheimnisumwittert. Wahrscheinlich sollten vor etwa tausend Jahren berühmte Häuptlinge oder besonders verehrte Ahnen dargestellt werden. Möglicherweise wurden die stolzen Figuren aber auch als Wächter über Grabanlagen oder Zeremonienplätze errichtet. Für ein Geheimnis jedoch gab es immer noch keine Erklärung. Warum lagen so viele angefangene oder halbfertige Statuen noch im Lavagestein des Hanges? Bei Ausgrabungen waren in unmittelbarer Nähe viele Werkzeuge gefunden worden, so als ob die damaligen Handwerker ihren Schaffensort völlig überstürzt und alle gleichzeitig verlassen hätten. Aber uns hatte ja keiner gefragt. Auf einer Holzbank umgeben von einer saftigen Wiese und mit Blick auf einen der liegenden Riesen sinnierten wir über zwei Theorien, die wir den Historikern hätten anbieten können.

Theorie eins. Einer der Vorarbeiter hatte um 14 Uhr und 2 Minuten ‚geschlossen‘ gerufen, es aber versäumt, die Mittagspause wieder zu beenden.

Theorie zwei. Als vor tausend Jahren die ersten Touristen eher zufällig auf die Insel stießen, waren sie von den riesigen Moais begeistert, aber Einpacken und Mitnehmen war nicht drin. Flexibel passten sich alle Handwerker dem Bedarf des Marktes an und produzierten nur noch Moais, die als Schlüsselanhänger geeignet waren.

Naja, so oder so ähnlich könnte es doch gewesen sein. Uns fiel auf, dass alle Moais, egal ob liegend oder stehend, männlich waren und in einer auffallend souveränen und abgeklärt wirkenden Form weit in die Ferne blickten, so als interessiere sie das alles nicht, was jeden Tag und Jahr um Jahr um sie herum geschah. Der Ausdruck der Abgeklärtheit wurde bei einigen Figuren noch dadurch verstärkt, dass die Mundwinkel leicht nach unten zeigten und die Lippen teilweise trotzig-skeptisch etwas vorgeschoben erschienen. Als wir schon wieder auf unserem Roller den Heimweg angetreten hatten, drehten wir uns nochmals um.

„Hey, die schauen uns wieder an!“ Ellen zeigte mit dem Finger zurück zum Vulkan. Aus der Ferne wurde aus ihrem Gesichtsausdruck ein überlegenes Lächeln. Diese Moais waren über die Welt, den Ort und die Zeit erhaben. Uns lief ein Schauer über den Rücken.

„Einen Tisch für zwei bitte und die Plätze wenn möglich über Eck“, sagte Achim zu dem freundlichen Kellner am gleichen Abend. Dieser führte uns auf die Terrasse. Aber nicht irgendeine Terrasse. Es war der Platz mit dem grandiosesten Sonnenuntergang in unserer bis dahin nicht ganz kleinen Palette.

Irgendwie hatte diese Insel etwas. Etwas Warmes und Herzliches. Wohlfühlatmosphäre war für uns das treffendste Wort.

24 Stunden auf diesem kleinen Eiland mitten im Nirgendwo und trotzdem wussten wir sofort, dass wir uns hier ab der ersten Sekunde wohl fühlten. Warum? War es der Sonnenschein? Wir erfuhren doch einen Ort immer als positiver, wenn sich die Sonne von ihrer besten Seite zeigte. Nein, das war es nicht. Nicht nur. Eine Landschaft, die viel schöner war als in allen Beschreibungen und auf allen Abbildungen? Sicher auch ein Argument. Waren es die Menschen? Wie angenehm war es, wenn einem mit einem lächelnden Gesicht und vor allem voller Vertrauen begegnet wurde - etwas das man auf dieser Welt nicht mehr all zu häufig einfach so fand. Und hier war fast jeder so. Noch vor wenigen Tagen hätten wir schwören können, dass eine kleine Insel kein dauerhafter Lebensraum für uns sein könnte. Aber diese 24 Stunden brachten unser Bild ins Wanken. Die Menschen, die hier lebten, schafften es mit ihrer Art, eine Atmosphäre zu kreieren, die in uns in Rekordzeit das Gefühl von Heimat erzeugte. Nach wenigen Stunden ein Gefühl, als wenn wir mit allem und allen vertraut wären, schon lange hier lebten und integrierter Teil der Insellandschaft und seiner Bewohner wären. Irgendwie magisch. Wie die Moais.

Einzelne Quellwolken am Horizont wurden von der untergehenden Sonne mit immer noch immenser, aber nachlassender Strahlkraft gelb-rötlich beleuchtet. Über den Wolkenrand hinausgehende Lichtstrahlen erzeugten rechts, links und über den Wolken farbige Silhouetten, so als ob sich am Horizont ein Engels-Chor aufgestellt hätte. Im Vordergrund peitschte mit jeder Woge die Gischt auf das schwarze, kantige Lavagestein. Nur ein kleines Wiesenstück trennte uns von diesem Naturspektakel. Wir hielten uns an den Händen und ergaben uns dem Augenblick. Nur 24 Stunden, aber ganz besonders wertvolle in unser beider Leben.

Auszug aus: Ellen Kuhn & Joachim Materna. „Keine Angst vorm Fliegen - Der Roman.“

Erschienen im tredition-Verlag. Erhältlich als Hardcover, Paperback und e-Book/Kindle.

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