Immer wieder werden wir danach gefragt - Wo gibt es den noch nicht entdeckten Traumstrand, den keiner kennt? Wo können wir wirklich noch unberührte Kulturen kennenlernen? Wo leben die Menschen wirklich noch unbeeinträchtigt von äußeren (bzw. westlichen) Einflüssen?
Fragen, die auf den ersten Blick, aus allgemeinen gesellschaftlichen Gesichtspunkten durchaus nachvollziehbar sind, aber bei denen sich ein Blick hinter die Kulissen durchaus lohnt.
Was bedeutet Ursprünglichkeit eigentlich?
Selbstverständlich ist das Wort Ursprünglichkeit ein sehr interpretationsstarker Begriff und von facettenreicher subjektiver Färbung. Sicherlich wird jeder von uns, wenn er denn einmal darüber nachzudenken beginnt, auch ganz eigene Definitionen finden. Konsultiert man den Duden, so finden sich dort Synonyme wie Einfachheit, Naturverbundenheit, Schlichtheit, Simplizität, Primitivität und im wörtlichen Sinne die „Eigenschaft, wenig bzw. gar nicht weiterentwickelt und/oder verfälscht zu sein“. Aus spiritueller Sicht ist Ursprünglichkeit das, was am Anfang war. Ursprung ist das, woraus alles entspringt, also entsteht.
In Summe ist Ursprünglichkeit also vielleicht etwas, das sich nicht weiterentwickelt hat - entspricht es dann am ehesten dem Kontrapunkt zu unserem eigenen aktuellen Leben? Ist Ursprünglichkeit etwas, das unserem eigenen Leben im Prinzip zum Großteil fehlt? Ein Defizit, das wir auf Reisen zu kompensieren versuchen?
Wo finden wir Ursprünglichkeit?
Das Leben besteht aus unglaublich vielen Ebenen und Facetten. Deshalb gibt es auf so eine Frage natürlich keine pauschale Antwort und erst recht nicht den „Geheimtipp“. Sicherlich kann man Ursprünglichkeit auch hier und da im Alltag entdecken, wenn wir es zulassen. Beschränken wir unser Suchgebiet aber auf das Thema Reisen und auf Länder, Landschaften und deren Kulturen so lässt sich sicherlich spontan sagen, dass sich wirkliche Ursprünglichkeit immer dort finden lässt, wo der Einfluss von Außen so minimal wie möglich ist, also in Ländern, die entweder politisch und wirtschaftlich isoliert sind und fernab von Kapitalismus und Globalisierung leben oder die geografisch so isoliert sind, dass sie die moderne Zivilisation noch nicht eingeholt hat. Die pure Ursprünglichkeit lässt sich also vielleicht nur noch in entlegenen Gebieten des Amazonas oder Papua Neuguineas finden. Was passiert aber, wenn wir als Touristen, auch nur einer von uns, einen Fuß in diese Ursprünglichkeit setzt? Vor ein paar Jahren musste einer der letzten „ursprünglich“ lebenden Stämme in Indonesien die Integration in die moderne Gesellschaft zulassen, da Fremde Krankheiten in Ihren Stamm eingeschleppt hatten, die sie nicht mehr mit ihrem auf Jahrtausenden beruhenden naturmedizinischem Wissen heilen konnten. Sie mussten sich geschlagen geben und die Hilfe der modernen Zivilisation in westlichen Krankenhäusern annehmen. Ist demnach die Suche nach Ursprünglichkeit nicht per se der Anfang der Zerstörung dieser Ursprünglichkeit? Und müssten wir nicht alle daher ein schlechtes Gewissen haben, wenn wir immer wieder nach Ursprünglichkeit suchen und sie penetrant als Highlight einer jeden Reise einfordern, oft ohne Nachdenken bzw. sogar unter Inkaufnahme fataler Folgen?
Wären wir selbst bereit „Ursprünglichkeit" zu leben?
Wenn Ursprünglichkeit das Gegenteil von Weiterentwicklung ist, dann wäre ein ursprünglicher Zustand sicherlich einer, der eine Abwesenheit der Annehmlichkeiten unserer westlichen Zivilisation - also der jahrelangen, kontinuierlichen Weiterentwicklung - bedeuten würde: hygienische und medizinische Errungenschaften, die modernen Medien, ohne die manch einer von uns weder privat noch beruflich überleben könnte, die Vorzüge von hochtechnischen Fortbewegungsmitteln, die ihre Aufgabe vermutlich bald schon ohne den Menschen durchführen können. Und selbstverständlich auch Wissen, ohne das uns das Zurechtfinden in einer immer komplexer werdenden Welt erschwert wäre.
Wenn Ursprünglichkeit also die Einbuße dieser Bequemlichkeiten bedeuten würde, dann wären wir selbst sicher nicht all zu geneigt, in unserem Leben konstant und kontinuierlich darauf zu verzichten, oder? Genießen wir nicht auch ein Stück weit die Möglichkeit der Rückkehr in eine „zivilisierte Welt“, wenn wir unseren Ursprünglichkeitsspeicher auf Reisen vollgetankt haben? Somit bleiben wir selbst auf Reisen bezüglich der Ursprünglichkeit gerne außen vor. Sie wird zu einem Objekt des touristischen Konsums wie der Eiffelturm oder das Taj Mahal.
Vorzüge der Ursprünglichkeit.
Vielleicht kennen Sie diese Situation nur zu gut: Sie laufen auf Reisen durch die Straßen einer fremden Stadt oder durch die „unberührte“ Landschaft eines fernen Landes und sehen Menschen am Wegesrand, sie leben in einer nicht isolierten Wellblechbehausung, haben kaum Kleider am Leib und diese tragen sie jeden Tag, da es an Geld und Möglichkeiten fehlt, sie haben kaum etwas zu essen, sie leiden unter Hunger, hygienischen Defiziten und daraus folgenden Krankheiten - aber sie tragen ein Lachen der Zufriedenheit auf Ihrem Gesicht, das uns in unserer Überflussgesellschaft zu häufig abhanden gekommen ist. Eine Zufriedenheit, die unabhängig ist von Besitz, Erfolg und Geld. Eine innere Zufriedenheit nach der wir uns sehnen, die wir fast schon beneiden. Und das, obwohl sie in unseren Augen „nichts“ haben. Ist es nicht diese Konfrontation mit der Ursprünglichkeit, die uns daran erinnert, dass wir mit dem was wir haben (in der Regel ein Vielfaches mehr) endlich einmal zufrieden sein sollten?
Aber der Vorteil der Ursprünglichkeit ist auch der Zugang zu unserem ureigenen Wesen, ein Gefühl für unsere Natur, mit der wie früher im Einklang lebten, ein über Generationen übermitteltes Wissen über die Heilkräfte der Natur, ein Leben im Einklang mit unserem angeborenen Biorhythmus, ein Besinnen auf das Wesentliche. Alles Aspekte, die wir in unserem Alltag vermissen, nicht wahr?
Was bedeutet Leben in Ursprünglichkeit?
Begeben wir uns in die Metaebene und schlüpfen wir in die Schuhe eines ursprünglich lebenden Menschen. Obwohl uns das sicherlich unglaublich schwer fällt, da wir ja das Privileg haben, überhaupt reisen zu können, etwas, das der „ursprünglich“ lebende Mensch einer anderen Kultur sich vermutlich Zeit seines Lebens nicht zu leisten im Stande ist. Wir fühlt es sich an, ohne die Annehmlichkeiten von Hygiene, moderner Medizin, einem „ausreichend“ an finanziellen Mitteln zu leben, wenn man noch nicht einmal weiß, dass diese Aspekte in anderen Gesellschaften im Überfluss existieren? Wie fühlt es sich an, im Einklang mit Natur und Klima zu leben, wenn man noch nie die Erfahrung gemacht hat, sich von ihr entfremdet zu haben? Wären wir bereit - wenn auch nur für einen fiktiven Moment - uns in die Rolle eines ursprünglich lebenden Menschen zu versetzen, so dass sich ein nach Ursprünglichkeit suchender Reisender dieses Leben von außen ansehen könnte? Ein zugegebenermaßen sehr provokantes Gedankenspiel. Aber hat nicht jeder Mensch auf diesem Planeten das Recht auf Weiterentwicklung? Auf die Annehmlichkeiten der Technik, Medizin und Hygiene zugreifen zu dürfen? Und wer darf sich das Recht anmaßen, es den „ursprünglich“ lebenden Menschen zu verweigern, nur um selbst auf Reisen für einen kurzen Augenblick Ursprünglichkeit zu erleben?
Was ist die Zukunft?
Viele Philosophen, Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler befassen sich mit der Frage, was die Zukunft unserer Gesellschaft ist und begeben sich zur Beantwortung dieser Frage ebenfalls auf Reisen in entlegene, ursprüngliche Kulturen. David Mitchell beschreibt in seinem literarischen Meisterwerk „Der Wolkenatlas“ eine Gesellschaft, die nach Ihrer technologischen Blütezeit in sich zusammenfällt und zum Stand des „Mittelalters“ zurückkehrt, da die Menschheit die Erde mit ihrer Ausbeutung zerstört hat. Dan Brown sieht in „Origin“ die Zukunft in einer Gesellschaft, die mit der Technik fusioniert. Wissenschaftler befassen sich mit der Zukunft von der Revolution rund um Industrie 4.0 - wie gehen wir Menschen mit der zunehmenden Technisierung um? Werden wir irgendwann zur „Ursprünglichkeit“ zurückkehren bzw. in Anbetracht der Ausbeutung unseres Planeten zurückkehren müssen? Oder werden alle die noch ursprünglichen, noch im Einklang mit sich und der Natur lebenden Kulturen in ein paar Jahrzehnten ausgestorben sein? Und tun wir dann nicht doch gut daran, die Kleinode der Ursprünglichkeit zu suchen und zu finden, nur um sie vor ihrer eigenen Zukunft zu bewahren?
Also gibt es nun den Geheimtipp?
Wir können die Globalisierung nicht aufhalten genau so wenig wie den Tourismus. Wir können Kulturen, Länder und Landschaften nicht vor den Einflüssen der westlichen Gesellschaften, somit eigentlich vor uns selbst, schützen. Aber was wir tun können ist, die Welt so zu sehen wie sie aktuell ist, mit all ihren Vor- und Nachteilen, ein sich ständig verändernder Ort mit Menschen, die sich entwickeln und sich anpassen. Und jeder von uns hat das Recht darauf, leider zu oft nicht die Mittel.
Vielleicht ist auch das das here Ziel eines Reisenden, die Welt zu sehen, wie sie ist und daraus zu lernen. Vielleicht ist eine wichtige Facette des Reisens, zu sehen, welche tatsächlichen Auswirkungen die Ausbreitung von westlichen Produkten (= mit Plastik überschwemmte Meere), Technologien (= nur noch am Handy hängende „Einheimische“) und der Tourismus (= mit fremden Eindrücken konfrontierte Kulturen) tatsächlich haben. Und vielleicht sollten wir weniger der verloren gegangenen Ursprünglichkeit nachtrauern, sondern helfen, gemeinsam und verantwortungsvoll unseren Planeten zu einem besseren Ort zu machen - wie auch immer das aussehen mag.
© Ellen Kuhn & Joachim Materna