Wer dieses Reisebuch liest, muss über Leichen gehen können…
Eine „Erzählerin, die unentwegt auf Wanderschaft ist, zu Fuß, im Auto, im Flugzeug und in Gedanken (…), ‚Unrast‘ ist eine Wundertüte voller Mythen, Bekenntnisse, Notizen und Gedanken über das Reisen“, so die verheissungsvolle Zusammenfassung des Kampa-Verlages.
Selten wichen die Stichworte eines Exposés so gravierend vom tatsächlichen Inhalt ab wie bei diesem Buch.
Dabei erschien auf Anhieb alles vielversprechend. Jemand, der wie ich das Reisen liebt und mittlerweile zu seinem Lebensunterhalt gemacht hat, musste sich von all dem angesprochen fühlen. Dazu eine polnische Autorin, die 2018 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, da konnte fast nichts schief gehen.
Fakt ist jedoch, dass das Reisen und fremde Länder in dieser Sammlung von Kurzgeschichten nur extrem selten repräsentiert sind (Griechenland, Island, Niederlande), und dann sogar manchmal in weit zurückliegenden Jahrhunderten.
Was in den Erzählungen überraschenderweise eindeutig dominiert ist ein völlig anderes Genre. Olga Tokarczuk hat offensichtlich eine abgrundtiefe Faszination für alles, was mit Leichen, Gliedmaßen von Verstorbenen oder deren Organen zu tun hat. Immer wieder wird der Leser bis ins Detail mit allen Verfahren der Konservierung von verstorbenen Menschen als Ganzes oder in Teilen konfrontiert. An dieser Stelle muss ich vielleicht erwähnen, dass ich bis vor kurzer Zeit als Mediziner mit dieser Materie bestens vertraut war und mir Berührungsängste dahingehend völlig fremd sind. Sich in einem Buch übers Reisen mit dieser Thematik wieder und wieder auseinandersetzen zu müssen, ist allerdings befremdlich und mehr als gewöhnungsbedürftig. Gunther von Hagen hätte mit Sicherheit größte Freude beim Lesen der Ausführungen nicht nur über die Plastination, sondern auch über Lagerungsverfahren in Formalin, über diverse Vivisektionen und Mumifikationen.
Da drängt sich fast zwangsläufig die Frage auf – was hat die Autorin Olga Tokarczuk für ein Problem? Aber die Beantwortung und Analyse kann man ihr als Psychologin sicherlich getrost selbst anheim stellen.
Mindestens genau so fragwürdig bleibt, welche Gründe der Verlag hatte, seine potentiellen Leser so zu täuschen, indem er all diese Kurzgeschichten unter diesem Reise-Label veröffentlichte. Die Antwort ist naheliegend. Die Geschichtensammlung erschien 2019, in dem Jahr, in dem Olga Tokarczuk rückwirkend der Nobelpreis für 2018 verliehen wurde. Also offensichtlich mal wieder rein merkantile Gründe, auf die Schnelle etwas zusammenzustellen und auf den Markt zu werfen. Und Reisen zieht immer.
Bleibt der letzte Strohhalm – immerhin ist sie doch Nobelpreisträgerin. Wer dieses Buch gelesen hat, fühlt sich in seiner Ahnung bestärkt, dass die Verleihung in Schweden leider all zu oft keine qualitativen, sondern rein politische Hintergründe hat.
Was bleibt ist eine Mogelpackung, eine literarische Irreführung.
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